FLUCHTRAUM ÖSTERREICH 2015


DAS SELBST UND DER FLUCHTRAUM
Aloisia Tamer







Selbstverwirklichung und selbstbestimmtes Handeln im Rahmen der Flucht
Ist es Individuen auf der Flucht und AsylwerberInnen im laufenden Prozess möglich, sich selbst zu verwirklichen und gleichzeitig selbstbestimmt agieren zu können? Oder wird dies vom Fluchtraum definiert und von der unzureichenden Erfüllung der Bedürfnisse des Flüchtenden?
Laut dem Soziologen Erving Goffman [1] ist selbstbestimmtes Handeln wichtig, um dem Gefühl vergeudeter Lebenszeit entgegenzuwirken. Gleichzeitig beschreibt er das Empfinden der Unmöglichkeit etwas in totalen Institutionen zu erreichen, was im späteren Leben wertvoll sein könnte. Die Bedürfnispyramide des Psychologen Abraham Maslow veranschaulicht ein kategorisiertes System, dessen Ziel die Selbstverwirklichung ist. Die einzelnen Komponenten stellen physiologische Bedürfnisse, die Bedürfnisse nach Sicherheit, die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und die Bedürfnisse nach Wertschätzung dar.
In Österreich ist die Deckung vieler dieser Bedürfnisse gesetzlich kaum geregelt und das Arbeitsverbot für AsylwerberInnen erschwert die Erfüllung essenzieller Bedürfnisse, wie das Bedürfnis nach Wertschätzung und Zugehörigkeit. Wo kann daher trotz dieser Einschränkungen ein selbstbestimmtes Handeln stattfinden? Diese Frage wird exemplarisch anhand von zwei Fluchtgeschichten versucht zu beantworten.


Maslow's Bedürfnisse und deren Deckung in Österreich
Abraham Maslow argumentiert in seinem Buch „A Theory of Human Motivation“, [2] dass menschliches Handeln einer Bedürfnishierarchie unterliegt. Er meint, erst wenn wir ein Bedürfnis spüren sind wir motiviert dieses zu erfüllen. Der Verhaltensforscher Werner Correll hat Maslow’s Theorie grafisch in eine Bedürfnispyramide übersetzt. [3] Correll ordnet die Bedürfniskategorien in seiner Grafik statisch an, was zur fälschlichen Annahme führen könnte, dass eine konkrete Kategorie erst zu 100 Prozent erfüllt sein muss, damit die nächste in den Vordergrund tritt. Dem ist jedoch nicht so, denn jene Ansammlung an Bedürfnissen und deren Sättigungsgrad ist individuell zu betrachten. Die dynamischere Darstellung der Bedürfnishierarchie von Krech, Crutchfield & Ballachey [4] lässt hingegen Überlappungen zu und zeigt, dass zu einem Zeitpunkt oft mehrere Bedürfnisse aus verschiedenen Kategorien aktiv sein können.
Maslow beschreibt vier Hierarchiestufen, die zur Selbstverwirklichung führen. Auf der untersten Stufe verortet Maslow die physiologischen Bedürfnisse. Diese umfassen all jene Bedürfnisse, ohne die der menschliche Organismus nicht überlebensfähig ist. Primär sind hier die Befriedigung von Sauerstoff, Hunger, Durst, Schlaf, Ruhe und Aktivität gemeint.
Sind diese weitgehend gedeckt, beginnt die zweite Schicht – das Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit – sich in den Vordergrund zu drängen. Die Rede ist hier von einer sicheren Umgebung, Stabilität, Schutz, Ordnung und Struktur und auch das Bedürfnis nach rechtlicher Anerkennung. Genau an dem Punkt beginnt für viele die eigene Fluchtgeschichte, weil das Leben in Sicherheit im eigenen Land in vielerlei Hinsicht nicht mehr gewährleistet war.
An dritter Stufe stehen die Bedürfnisse nach Liebe und Zugehörigkeit. Für Maslow ist der Zugehörigkeitsbegriff ein Zusammenschluss innerhalb einer emotionalen Ebene. Genauer gesagt heißt das, aufgehoben zu sein und emotionalen Rückhalt zu erfahren. Das kann sich in Freundschaft, Familie und der Gemeinschaft aus­drücken. Ohne Integrationsmöglichkeit ist die ausreichende Deckung dieses Bedürfnisses oft nicht oder nur bedingt möglich. Es kann nicht reichen, ein Teil der Gemeinschaft im Asylheim zu sein.
Die vierte Stufe beschreibt die Wertschätzung. Dabei unterscheidet Maslow zwei Versionen: eine niedrigere und eine höhere Form. Die niedrigere Form ist das Bedürfnis, von anderen respektiert zu werden. Das kann Status, Ruhm, Ehre, Anerkennung, Aufmerksamkeit und einen guten Ruf bedeuten. Die höhere Form beschreibt er als Selbstachtung. Diese drückt sich in Selbstvertrauen, Kompetenz, Leistung, Professionalität, Unabhängigkeit und Freiheit aus. Als „höher“ wird diese Form bezeichnet, weil die Achtung von Seiten anderer leichter zu verlieren ist als die Selbstachtung. Mit dem eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt und den erschwerten Bedingungen ein Studium zu beginnen, ist auch hier diese Erfüllung für die AsylwerberInnen nur schwer umsetzbar.
Laut Bundesasylgesetz sind in der Grundversorgungsvereinbarung nur die ersten beiden Bedürfniserfüllungen teilweise gesetzlich geregelt. Diese umfassen unter anderem die Unterbringung in geeigneten Unterkünften, eine angemessene Verpflegung, die Sicherung der Krankenversicherung und die Gewährung eines monatlichen Taschengeldes. Zugehörigkeitsbedürfnisse werden mit der Anmerkung „unter Beachtung der Familieneinheit“ nur zu einem kleinen Teil gesetzlich erwähnt. Wobei unbegleitete minderjährige Flüchtlinge die Ausnahme bilden. Hier wird im Artikel 7 der Grundversorgungsverordnung folgender Punkt erwähnt: „Erarbeitung eines Integrationsplanes sowie Maßnahmen zur Durchführung von Schul-, Ausbildungs- und Berufsvorbereitungsaktivitäten unter Nutzung der bestehenden Angebote mit dem Ziel der Selbsterhaltungsfähigkeit.“ [5] Somit wird hier dem Bedürfnis nach Wertschätzung und Selbstbestimmung zum Teil Rechnung getragen. Zur Ausführung ist zu sagen, dass Grundversorgungsunterkünfte in ganz Österreich mit einer Quotenregelung aufgeteilt sind. Lage, räumliche Struktur der Unterkünfte sowie die BetreiberInnen bestimmen die Qualität des Aufenthaltes. Die Zuteilung zu einem Grundversorgungsplatz erfolgt ohne Mitsprache der Schutzsuchenden. Was das für Folgen für die Betroffenen haben kann wird zunächst mit der Fluchtgeschichte von Daniel verdeutlicht. [6]


Warum Daniel in Wien besser wohnt
Daniel aus Gambia ist mit 28 nach Österreich gekommen. Er wurde einer Grundversorgungsunterkunft in Kössen/Tirol zugeteilt. Dort lebte er sechs Monate in einem Einzelzimmer.
„Das Essen war nicht gut und wo soll ich mit 40 Euro Taschengeld hinfahren? Die Hin- und Rückfahrt nach Innsbruck kostet 27 Euro. Auch die Leute vor Ort waren nicht sehr nett zu uns. Meiner Meinung nach waren sie ausländerfeindlich. Sie wollten nicht, dass wir uns integrieren. [...] Ich war dort sechs Monate und durfte nicht in die Schule gehen. Wie soll ich mich in Österreich integrieren, wenn ich keinen Zugang zu Bildung habe und Deutsch lernen kann. [...] Mir ging es dort nicht gut, ich hatte das Gefühl ich darf nicht mit den Leuten reden. Einmal habe ich eine Frau mit ‚Hallo‘ angesprochen und sie hat die Polizei gerufen. [...] Wir durften nicht selber für uns kochen. Das Essen kam von der Heimleiterin. Sie hat beim kleinsten Problem die Polizei gerufen. [...] Man konnte keine Arbeit finden. Im Winter hatte es minus 20 Grad. Ich habe sehr schlimme Erfahrungen in diesem Dorf gemacht. [...] Ich habe alleine in einem kleinen Zimmer gewohnt. [...] Nach sechs Monaten habe ich selbstständig das Dorf verlassen, ich habe mir gesagt: ‚Genug gelitten.‘“
Anhand dieser Aussagen wird deutlich, dass gesetzlich zwar eine „angemessene Verpflegung“ festgelegt ist, die Interpretation und Umsetzung jedoch allein bei den BetreiberInnen liegt. Wie unbefriedigend das für die Betroffenen sein kann, wurde im vorangehenden Beispiel dargestellt. Die damit verbundene Unmöglichkeit, für sich selbst zu kochen und selbst zu entscheiden, wann und was gegessen wird, beschreiben auch andere Gesprächspartner als sehr einschränkend. Die fehlende Mobilität ist ein weiterer Negativpunkt in diesem Beispiel. Die Unerträglichkeit der Situation sowie die ausschlaggebende fehlende Möglichkeit, sich zu integrieren und die Sprache zu lernen, hat Daniel schlussendlich dazu gebracht, aus der Grundversorgung herauszutreten und in Wien sein Glück zu versuchen.
Im Gegenzug dazu beschreibt Daniel die Situation in der Anlaufstelle von Ute Bock in der Wiener Zohmanngasse folgendermaßen: „Hier ist es besser als im anderen Heim. Weil wir hier jede Woche gratis Essen von der Wiener Tafel bekommen. Dreimal in der Woche bekommen wir Brot, Reis, Gemüse, viele verschiedene Joghurts, Milch und auch Fisch. Das Heim ist sehr sauber. Jeder wohnt alleine. Sanitärräume und Küche werden geteilt. Es ist aber sauberer als im anderen Heim. Es ist sehr ruhig und es gibt nicht so viel Lärm. Ich finde es hier besser. Ich kann auch meinem Studium nachgehen. Es ist ok für mich. Ja, es ist ok.“
Der Vorteil, der forcierten Selbstständigkeit wird hier klar aufgezeigt. Obwohl Daniel in beiden Fällen in einer kleinen Wohnung/Zimmer (ca. zehn Quadratmeter) lebte wird die Unterkunft im Zusammenhang ganz anders wahrgenommen. Zwischen der Unterbringung in den beiden Aufenthaltsorten liegen fast acht Jahre. Dazwischen hat er in mehreren Wohngemeinschaften gewohnt. Diese wurden von Ute Bock und ihrem Team organisiert und finanziert. Eine davon war unter anderem eine Wohnung im zwölften Wiener Gemeindebezirk.
„Im Kabelwerk hat es mir sehr gut gefallen. Das Haus war gut und ich wohnte dort nur mit einem Freund aus Nigeria. Er hat aber fast nie dort geschlafen. Das heißt ich habe fast drei Jahre dort alleine gewohnt.“
Auf die Frage hin, ob ihm die Situation bei Ute Bock oder im Kabelwerk besser gefallen hat, bekomme ich folgende Antwort von Daniel: „Das Kabelwerk ist besser, weil man dort frei ist. Hier gibt es manchmal Sicherheitskontrollen. Man darf keine anderen Personen nach 22.00 Uhr in das Haus mitnehmen.“
Obwohl er sich in der Zohmangasse sehr wohl fühlt, betont er doch ein anderes Freiheitsgefühl, das er in der Wohnung im Kabelwerkt hatte.


Selbstbestimmt und trotzdem nicht selbstverwirklicht
Im Gegensatz zu Daniel wohnt Namid, [7] 21 Jahre alt, in Afghanistan geboren und im Irak aufgewachsen, in einer betreuten Wohngemeinschaft in Hirtenberg und zeigt mit seiner Geschichte, dass selbstbestimmtes Handeln in Teilen trotzdem möglich sein kann, jedoch aufgrund gesetzlicher Hürden dies nicht bis zu einem Gefühl der Selbstverwirklichung möglich ist.
„Ja, hier ist es eigentlich besser. Wenn man essen kann, was man Essen will. [...] Ich darf nicht arbeiten. Mithilfe der BetreuerInnen habe ich eine Arbeit gefunden. Nach dem Bewerbungsgespräch erhielt ich eine Zusage für eine Stelle als Mitarbeiter. Ich darf aber nur eine Lehre machen. Da sie keine Lehrplätze anbieten, konnten sie mich auch nicht als Lehrling anstellen. Auch ein Praktikum für sechs Monate ist gesetzlich nicht erlaubt. Nicht einmal für sechs Wochen.“
Auf die Frage hin was er sich für die Zukunft wünscht bekomme ich folgende Antwort: „Ja, Wünsche hätte ich viele. In dieser Zeit, wenn man warten muss. Man wartet bis alles besser wird, aber langsam wird alles irgendwie schlimmer. Eigentlich habe ich gar nichts vor. Ich will nur schnell meine Papiere bekommen. Danach kann ich alles erreichen. [...] Durch meinen Kopf geht vieles. Ich versuche, es zu ignorieren und beschäftige mich mit Sport und Fußball, vieles und irgendwas. Damit diese Gedanken nicht hierbleiben. Es passiert, man kann nichts dagegen tun und ich kann es nicht ändern. [...] Am Wochenende bin ich oft in Wien. Eigentlich bin ich fast jeden Tag in Wien. Ich trainiere dort und am Wochenende treffe ich Freunde und Freundinnen.“
Goffman beschreibt in seinem Buch „Asyle: Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen“ die Insassen einer totalen Institution als resignierend. Sie schreiben die Zeit dort ab, sie muss irgendwie abgesessen und durchgestanden werden. Sie verknüpfen diese mit dem Gefühl vom Leben ausgeschlossen zu sein. [8]
Namid ist sich offenbar der Einschränkung seiner Selbstverwirklichung durch das Arbeitsverbot bewusst. Er bleibt aber trotz eingeschränkter finanzieller Möglichkeiten durch die Schülerfreifahrt mobil. Dadurch kann er selbstbestimmter agieren, Freundschaften pflegen und seinem Hobby nachgehen. Gleichzeitig sind auch Resignation und Verdrängung zum Teil vorhanden. Es kann hier aber nicht von einer totalen Institution, wie Goffman sie beschreibt, gesprochen werden. Weil es Namid möglich ist, trotz der Einschränkung im Rahmen seiner Möglichkeiten zu handeln. Dadurch ist er vom Leben nicht ausgeschlossen oder wird gänzlich fremdbestimmt.
Wenn wir annehmen, dass bei Flüchtlingen in erster Linie die physiologischen und auch die Sicherheitsbedürfnisse stark ausgeprägt sein müssten, so klingt die gesetzliche Regelung zunächst ganz plausibel. Zu unterstreichen ist jedoch, dass es sich hier um keine kurze Extremsituation handelt, sondern um einen oft langandauernden Aufenthalt, eine Lebenszeit, in der die Betroffenen das Recht haben sollten, alle ihre Bedürfnisse zu erfüllen.
Ich kritisiere hiermit die Sinnhaftigkeit der reinen Konzentration der Bedürfniserfüllung in den ersten beiden nach Maslow beschriebenen Kategorien (physiologische Bedürfnisse und Bedürfnisse nach Sicherheit) Wie sehr sind die Leute dadurch nicht noch mehr eingeschränkt?
Maslows Bedürfnishierarchie veranschaulicht, dass ein Mensch eine Vielzahl von Bedürfnissen hat, die es zu decken gilt. Aufzuzeigen gilt es, dass die Betroffenen vor allem ein starkes Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Wertschätzung und Selbstbestimmung haben.
Die Geschichten zeigen, dass Selbstverwirklichung trotz all der Schwierigkeiten zum Teil möglich ist. Die Gesprächspartner konnten Wertschätzung erfahren und hatten die Chance in ein Netzwerk eingebunden zu werden und damit im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu agieren.
Nichtsdestotrotz werden Schutzsuchende in Österreich nur geduldet und das auf ungewisse Zeit. Was bleibt ist eine Abgrenzungspolitik, mit einem eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt sowie einer mangelnden Bewegungs- und Reisefreiheit, die vielen Flüchtlingen ein selbstbestimmtes Handel und die Möglichkeit auf Selbstverwirklichung verwehrt.

 

 

Quellenangaben

[1] Siehe Erving Goffman, Asyle: Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1973), 70ff.

[2] Abraham Harold Maslow, A Theory of Human Motivation, (Psychological Review, 1943), 370-385.

[3] Siehe Thomas Breyer-Mayländer, Einführung in das Medienmanagement: Grundlagen, Strategie, Führung, Personal, (Oldenbourg: Wissenschaftsverlag, 2004), 149.

[4] Siehe David Krech, Richard S. Crutchfield, Egerton L. Ballachey, Individual in Society: A Textbook of Social Psychology, (New York: McGraw-Hill, 1962), 72ff.

[5] Bundeskanzleramt Österreich Rechtsinformationssystem, Gesamte Rechtsvorschrift für Grundversorgungsvereinbarung – Art. 15a B-VG, URL: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20003460, abgerufen am 07.07.2015.

[6] Treffen mit Daniel am 16.05.2015, Wien. Der Name wurde von der Autorin geändert.

[7] Treffen mit Namid am 05.05.2015, Hirtenberg, Niederösterreich. Der Name wurde von der Autorin geändert.

[8] Siehe Erving Goffman, Asyle: Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1973), 70ff.

 

Das Selbst bestimmt der Fluchtraum – Der selbstbestimmte Fluchtraum

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